Der dritte Weg
Der dritte Weg
Von Lili Tabea Weiler (2012)
Vor einiger Zeit gab es in Biboringen einen kleinen Zwerg. Er hieß Waldemar. Er und seine Familie wohnten in einem Haus mit einem Blätterdach. Seine Familie bestand aus seiner kleinen Schwester Lin, seinen zwei Brüdern Sam und Bisonao, seiner Mutter und seinem Vater. Sam streifte oft mit Bisonao durch die Wälder, während Waldemar lieber mit seinen Freunden Will, der kleinen Eva und Pietro auf der Lichtung picknickte oder im Wald Pilze suchte. Lin würde auch gerne herumtrollen, aber sie war zur Hausarbeit verpflichtet. Sie musste die Wäsche waschen und das Haushaltsbuch führen, denn wenn die Eltern am Abend aus der Bananenfabrik kamen, verschwitzt vom vielen Banananschiff rudern, musste das Essen auf dem Tisch stehen. Meist war es eine warme Suppe, ein buntes Gemüse oder ein belegtes Brot. Nach der gemütlichen Mahlzeit ging es ab ins Bett, denn alle waren müde, besonders Lin, die sogar vorher die Bettdecke zurechtlegen musste.
An einem solchen stinknormalen Tag geschah es. Waldemar war gerade wieder mit seinen Freunden unterwegs, um auf Bäume zu klettern oder im Gras Spinnen, Käfer und Heuschrecken zu fangen. Sie setzten sich an einen Baum, um zu verschnaufen. „Ich mache mir hier meine Kleider noch schmutzig“, jammerte die kleine Eva, „lasst uns umkehren.“ Doch damit waren die anderen nicht einverstanden. „Wozu haben wir denn sonst das Einmachglas mitgenommen?“, fragte Pietro, der eine Lupe besaß, mit der er kleine Insekten fing. „Nein, das ist unwichtig. Wir wollen doch auf Bäume klettern!“, beschwerte sich Will. Damit war Evas Vorschlag abgelehnt. Waldemar warf sich ins Gras. „Lasst uns jetzt nicht streiten“, sagte er genervt. „Wie wäre es, wenn wir ein Wettrennen machen?“ Die anderen sprangen sofort auf. „Wer als erstes an der alten Eiche ist!“, rief Pietro. Und dann rannten sie los.
Die alte Eiche war riesig. Sie lag zirka einen Kilometer von der Stelle entfernt, an der die Freunde immer spielten. Waldemar rannte. Er rannte so schnell, dass er schon nach 100 Metern außer Atem war. Keuchend blieb er stehen und sah sich um. Zirka 50 Meter hinter ihm rannte Pietro. Er war längst nicht so schnell wie Waldemar. Und außerdem kannte der Freund eine Abkürzung. Er hatte also keinen Grund, sich zu beeilen. Weiter vorne rannte Will. Er war der schnellste von allen. „Das arme Evchen“, dachte Waldemar, „Sie läuft ganz hinten mit schmutzigen Kleidern. Ich kenne ihre Mutter, die schimpft sofort.“ Er seufzte und lief weiter. Sonst verlief die gesamte Strecke reibungslos. Waldemar blieb noch einige Male stehen, um zu verschnaufen, bis er an der alten Eiche ankam. Dort wartete Will auf ihn. „Na endlich!“, rief er, „Wo bleiben denn die anderen?“ Waldemar deutete hinter sich, wo man Pietros Umrisse unscharf und verschwommen zwischen den Bäumen näherkommen sah. Waldemar lehnte sich an den dicken Baum und ließ sich an dem Stamm auf den Boden gleiten. So warteten sie schweigend, bis Pietro da war. „Jetzt fehlt nur noch das Evchen. Muss wohl ziemlich weit hinten sein“, sagte Pietro keuchend. „Wie bitte?“, fragte Waldemar, „Warum hinten? Hast du sie nicht gesehen? O nein, vielleicht ist sie irgendwo hängengeblieben! Was werden ihre Eltern sagen? Ein schmutziges Kleid – ok. Aber ein zerrissenes? Lasst uns sie suchen.“ Die anderen nickten zustimmend. Dann gingen sie los.
Eva saß da und weinte. „Warum bin ich nur nicht mitgekommen? Oder warum habe nichts gesagt? Ich hätte Bescheid geben müssen, als ich mich entschied zu bleiben. Wahrscheinlich gehen sie direkt nach Biboringen und denken, ich komme erst später.“ Sie schluchzte. Dazu hatte sie auch allen Grund. Sie war nicht mit den anderen gelaufen. Nein, sie hatte auch nicht gewartet. Sie war mitten in den Wald gegangen. Da hatte sie einen Pfad gefunden, den sie noch nicht kannte. Sie war ihm gefolgt. Dann war da die Abzweigung. Zwei Wege hatten sich gekreuzt. Und Evi hatte sich entschieden, links abzubiegen. Auf einmal war der Wald finsterer geworden und es war so still. Dann waren da wieder vier Wege. Sie hatte sich einmal im Kreis gedreht, um zu sehen, welchen sie nehmen sollte. Aber da war es so dunkel und … Das Mädchen stieß einen Schluchzer aus. Was hätte sie denn anderes machen sollen. Sie hatte sich für den zweiten Weg entschieden. Aber nach drei Metern war es ihr zu unheimlich, so ganz allein im Wald. Sie wollte umkehren. An der Kreuzung war es passiert. Das Schlimmste, was ihr hätte passieren können. Sie wusste nicht mehr, wo sie hergekommen war. Und jetzt saß sie da. Auf einem kalten Stein und weinte. Was sollte sie bloß tun?
„Hier ist sie nicht“, rief Will, nachdem er auf der Lichtung gewesen war. „Aber wo könnte sie sonst sein?“, fragte Pietro. Waldemar wusste es nicht. Wo sucht man schon ein kleines, im Wald verschwundenes Kind, und noch dazu ein Mädchen. Er sah sich um. Aus dem ersten Weg waren sie gekommen. Der zweite führte nach Biboringen und der dritte… Wollte Evchen etwa das Unbekannte erforschen? Waldemar wusste nicht viel über diese Stelle des Waldes, aber eins war klar: Jeder, der je versucht hatte, den dritten Weg zu betreten (und das waren noch nicht viele), war nie zurückgekehrt. Waldemar schluckte. „Vielleicht, äh, ist sie nach Biboringen gegangen“, sagte er leise, „ es kann ja sein, dass sie sich gelangweilt hat, nachdem sie nicht mitgekommen war.“ Waldemars Stimme klang hoffnungslos. Pietro kam hinter einem Strauch hervor: „Hier ist sie auch nicht, oder sie hat den Weg nicht gefunden“, rief er. Die anderen schüttelten die Köpfe. Sie waren die Strecke schon so oft abgegangen, und es war auch vorgekommen, dass Evchen die erste gewesen war, nach einem Rennen. „Da bleibt nur noch eine Möglichkeit: der dritte Weg…“, sagte Will leise.
Sie alle wussten, was das für Evchen – und auch sie – bedeuten würde. Das heißt, eigentlich wussten sie es nicht. Waren die Leute, die den Weg betreten hatten, gestorben? Hatten sie sich verirrt? Was würde mit den drei Freunden geschehen? Aber eins war klar: Sie mussten es versuchen. Die drei nahmen allen Mut zusammen und setzten einen Fuß auf den Weg. Nichts geschah. Sie drehten sich um. Da lag die Lichtung, so wie sie sie zurückgelassen hatten. Will räusperte sich. „Also, äh, meiner Meinung nach ist das hier viel zu gefährlich“, sagte er. Pietro nickte. „Das sehe ich auch so. Aber für Evchen ist es auch gefährlich. Wir müssen sie retten“, gab er seine Äußerung. Waldemar sagte nichts. Er schloss die Augen und ging los. Will und Pietro traten hinter ihm auf den Weg. „Also“, sagte Waldemar, nachdem er die Augen wieder geöffnet hatte, „es ist nichts weiter Schlimmes passiert und ich sehe hier auch keine Monster, also scheint es nicht lebensgefährlich zu sein. Und was auch immer allen Verschwundenen passiert ist, es ist auch Evi passiert, und es wird auch uns passieren. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“
Es begann schon zu dämmern, und Eva saß immer noch da. Was sollte sie tun? Sie musste etwas tun. Keiner würde sie hier suchen. Das war klar. Aber sie fragte sich, ob in diesem verfluchten Wald irgendjemand eine Hütte besaß, in die sie sich in der Nacht zum Schlafen legen konnte. Wohnte hier überhaupt jemand? Evi sah sich um. Nirgends war ein Schild. Es gab auch keine Reitwege. Und das Schlimmste war: Nirgends waren Fußspuren. Das bedeutete, dass hier nie jemand langgegangen war. Jetzt begriff Evchen erst richtig, in welcher Gefahr sie sich befand. Wahrscheinlich würde sie hier nie wieder rausfinden. Nie wieder! Sie schluckte. Sie war den Tränen nahe. Schließlich stand sie auf und betrachtete die vier Wege. Nur über einen von ihnen wusste sie Bescheid. Der führte nicht zurück und das Mädchen würde ihn nie wieder betreten. Schließlich entschied sie sich den, dem Stein gegenüberliegenden zu probieren. Tapfer ging sie los.
Lin hängte einen Topf über das Feuer. Sam und Bisonao spielten mit ihrer Steinschleuder. „He, siehst du den Vogel dort? Wer den als erstes trifft!“, rief der ältere Bisonao. Sam nahm seinem Bruder die Schleuder aus der Hand und zielte. „Den treffe ich! So einen Fang, der wäre schon toll! Lin, dann hättest du ein tolles Abendessen für uns!“, rief er, während er spannte. Dann ließ er los. Mit einem leisen Pfeifgeräusch flog der flache Stein. Der Vogel sah etwas kommen und flatterte auf. Die spitze Waffe flog ins Leere und das Tier war weg. Lin seufzte. „Jetzt hört doch mal auf und antwortet mir! Wo bleibt Waldemar? Habt ihr ihn gesehen?“, fragte sie. Die Jungs schüttelten die Köpfe. „He“, rief Lin, „ein bisschen mehr Interesse bitte, „in einer halben Stunde kommen die Eltern, und wenn wir dann nicht alle brav um den Tisch sitzen, gibt es ein Donnerwetter. Treibt der Bursche sich nicht immer mit dem Nachbarsjungen Will herum?“ „Ok, ok!“, rief Bisonao, „Wir gehen und fragen bei ihm nach, wenn du dann Ruhe gibst.“ Sam nickte zustimmend. Lin seufzte und sagte: „Ja, das wäre zum Beispiel eine Lösung. Ich wusste schon immer, dass ihr zu irgendetwas gut seid!“.
Die Brüder standen auf und gingen. Sie hatten zwar wenig Lust, aber sie taten es. Allerdings hatten die Nachbarn keine Ahnung. „Woher sollen wir denn wissen, wo euer Bruder ist? Unser Sohn kommt sicherlich gleich, und ihr braucht euch auch keine Sorgen zu machen“, sagte das unfreundliche Ehepaar. Mit dieser Nachricht gingen die Jungs zurück. Schließlich beschloss Lin, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Irgendwo musste ihr Bruder ja sein. Sie ging zum Feuer und nahm den Topf herunter. „Essen kommen!“, rief sie. Sam und Bisonao kamen und setzten sich. „Ich gehe ihn suchen“, erklärte das Mädchen ohne große Umschweife. Falls die Eltern kommen, sagt, ich sammle Kräuter.“ Sie hob eine Hand voll Schnittlauch hoch und drehte sich um. „Und wann bist du zurück?“, fragten die Jungs, denen die Sache doch etwas unbequem wurde. Doch die Schwester antwortete nicht, sondern zog sich Schuhe und Strümpfe an und marschierte los.
Waldemar, Will und Pietro gingen einige Meter still neben einander her, bis Pietro das Schweigen brach. Er sagte: „Was ist eigentlich mit unseren Eltern? Was, wenn sie sich Sorgen machen?“ Will zuckte mit den Schultern und Waldemar murmelte: „Wenn die sich Sorgen machen… Na ja, was ist euch wichtiger? Doch wohl eher, dass Evchen zurückkommt, oder?“ „Du hast recht“, sagte Will, wir sollten weitergehen.“ Am Wegrand wuchsenennnesseln und dunkle Bäume ragten in den Himmel. Die Finsternis umschloss die Kinder, aber sie gingen trotzdem weiter.
Evi blieb stehen und sah zurück. Dort, vor ihr lag ein endloser Weg, der ins Nichts führte. Das Mädchen schluckte. Sie musste zurück zu dem kalten Stein. Dieser Weg war es nicht, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, so weit gegangen zu sein. Sie war bestimmt wieder mindestens drei Stunden unterwegs gewesen. So kam es ihr zumindest vor. Als sie wieder am Stein angekommen war, markierte sie mit Stöcken die Wege, die nicht mehr infrage kamen. Evchen hatte aufgehört zu schluchzen und versuchte, sich an den Weg zu erinnern, aus dem sie zu Anfang gekommen war, doch es gelang ihr nicht. So legte sie sich auf den Stein und schlief ein. Die Müdigkeit hatte gesiegt.
Lin lief. Sie hatte beschlossen, ihren Bruder zu finden, und das musste sie jetzt versuchen. Als sie an der Lichtung ankam, blieb sie stehen und sah sich um. Hier war er nicht, also musste er zur alten Eiche gerannt sein. Seufzend setzte sie sich in Bewegung. Die drei Jungs kamen an eine Kreuzung. Sie sahen sich fragend an. „Wo lang?“, fragte Will, aber die Frage war dumm, denn das wusste keiner. Sie konnten ja nicht wissen, dass Eva eine Kreuzung weiter war. Während Will und Pietro diskutierten, versuchte Waldemar, sich in Evas Lage zu versetzen. Wo wäre sie lang gegangen? Das war eine schwere Frage. Pietro schlug vor: „Wir könnten uns trennen! Jeder würde einen Weg nehmen, und wenn wir sie in einer halben Stunde nicht gefunden haben, kommen wir zurück.“ Die anderen schüttelten die Köpfe. „Nein“, wandte Waldemar ein. „Was ist, wenn wir uns verlaufen?“ Will nickte. „Wir sollten zusammen bleiben“, sagte er. Alle hatten Angst, aber keine versuchte, es zu zeigen. „Wir versuchen es rechts, ok?“, schlug Waldemar vor. Pietro zuckte mit den Schultern, Will nickte und sie gingen los.
Evi wachte nach einer Stunde wieder auf. Zuerst wusste sie nicht mehr, wo sie war, aber dann fand sie sich wieder. Nachdem sich das Mädchen ausgiebig gereckt hatte, stand es auf. Sie sah die Stöcke, die zwei Wege absperrten, und wusste wieder, was geschehen war. Sie hatte sich verirrt. Erneut betrachtete sie die Wege, aber noch immer konnte sie nichts erkennen, was ihr weiter helfen konnte. Also musste sie sich entscheiden. Welchen sollte sie nehmen? Sie nahm den, der neben dem großen kalten Stein lag, und begann zu rennen. Sie gab einfach alles.
Lin war an der alten Eiche angekommen. Kein Waldemar. Sie musste zurück, zu der Stelle, an der sie begonnen hatte. Dabei bemühte sie sich, nicht an den einzigen noch möglichen Weg zu denken. Das fiel allerdings schwer, jetzt, nachdem sie wusste, dass ihr Bruder da drin war. Sie versuchte, sich an die Fotos zu erinnern, die in ihrer Hütte hingen. Sie bildeten den riesigen großen Wald ab. Und dabei redete sich das Mädchen ein, dass Waldemar überall sein konnte, nur nicht im dritten Weg. Der dritte Weg war verflucht. Sie wusste alles, was man sich über ihn erzählte. Alles. Nur nicht, ob Waldemar dort war, und das war ja jetzt das Wichtigste. Sie musste es feststellen.
Die Freunde liefen. Liefen in den endlosen Wald. Wo war Eva? Wo? Sie guckten hinter jeden Baum und jeden Strauch. Wo was sie? Waldemar rief immerzu ihren Namen, während Will und Pietro suchten. Sie hatten solche Angst. Inzwischen war es stockdunkel und keiner wusste mehr weiter. Es war alles so schrecklich dunkel, so schrecklich weit, so schrecklich einsam. Schließlich konnten sie nicht mehr. Sie ließen sich auf den Boden sinken und schliefen ein.
Evi rannte stolperte, halb vor Angst und vor Verzweiflung. So schreckliche Angst hatte sie. So schrecklich durstig war. Hatte sie überhaupt noch eine Chance? Oder war sie sozusagen schon tot? In welchem Zustand war sie? War dies der richtige Weg? Als Evchen schon fast aufgegeben hatte, sah sie es. Es war so schön. Eva verlor sofort alle Angst. Sie rappelte sich auf und rannte darauf zu. Circa 50 Meter vor ihr glitzerte etwas so schön, so hell, ja, es blendete sie fast. Das Mädchen lief noch schneller. Sie hatte neue Hoffnung. Alles würde gut werden, alles! Evi wusste nicht, was ihr an diesem wunderschönen, strahlenden und Mut einflößenden Etwas so viel Verzweiflung nahm. Es war einfach da und strahlte so schön und hell. Evchen beschleunigte ihr Tempo. Je näher sie dem Wunderschönen kam, desto heller wurde es. Eine leichte Brise strich über ihr Gesicht und ihre Haare wehten im Wind. Alles war so voller Glanz, dass Evi stehen blieb und den Moment genoss. Eine riesige Portion Glück durchströmte ihren Körper und lief durch die Finger in den Bauch und von da aus in Beine, Füße, Hals und Kopf. Noch nie zuvor hatte sie sich so glücklich gefühlt.
Erneut rannte das Kind los. Alles würde gut werden. Alles. Alles. Sie war sich so sicher. Als Eva bei dem strahlenden Etwas ankam, musste sie die Augen schließen, so hell war es. Als sie sie wieder öffnete, sah sie es. Ein riesiger gigantischer Haufen Edelsteine lag vor ihr. Er glänzte so hell, dass Evchen es kaum glauben konnte. Wie gelähmt glitten ihre Finger nach vorne. Dort, wo sie es sah. Sie berührte das Etwas, sie stand da, vor Entzücken und Glück. Ihre Finger strichen über einen Diamanten, der in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Jetzt begann auch ihre andere Hand, über das kalte Glas zu streichen. Schließlich griffen ihre Finger zu. Sie ging einige Schritte zurück. Das schöne Etwas. Ein Teil davon lag in ihren Händen. In ihrem Kopf brummte es. Eva hatte den Schatz aus 1000 Talern gefunden. Sie ließ den Edelstein in ihre Tasche gleiten. Dann drehte sie sich um und rannte los.
Lin stand vor dem dritten Weg. Sollte sie ihn betreten? Oder zurückgehen und warten, bis die Eltern da waren? Dann müsste sie ihnen alles erklären. Aber andererseits waren sie bestimmt schon da und schimpften mit Bisonao und Sam. Also entschloss sie sich: „Entweder ich kehre mit Waldemar zurück oder gar nicht. Die Möglichkeiten habe ich.“ Sie entschied sich für die erste. „Und wenn ich dafür den dritten Weg betreten muss? Ok, ich mache es für Waldemar“, sagte sie laut zu sich selbst. Sie musste es einfach tun.
„Hallo, seid ihr wach?“, fragte Waldemar. Er hatte sich aufgesetzt. Jetzt öffnete auch Pietro und Will die Augen und nickten. „Wir können weiter gehen“, sagte Will. Sie standen auf uns tapsten schlaftrunken los. Dabei unterhielten sie sich, damit die Zeit schneller verging. Irgendwann rief Pietro: „Warte mal!“ Die anderen blieben verdutzt stehen. Was ist denn, fragte Waldemar. Jetzt fiel es auch Will auf. „Wir gehen geradewegs auf die Kreuzung zu“, rief er, „und gar nicht in den Wald.“ Die drei sahen sich an und lachten. „Na gut“, sagte Waldemar, „dann gehen wir eben zurück zum Ausgangspunkt. Hoffentlich finden wir Evchen. Die Arme hat bestimmt scheußliche Angst. Vielleicht hat sie schon zurück gefunden, und sucht uns jetzt“. Sie rannten los.
Eva war an der Kreuzung angekommen. Es war so dunkel, dass sie überhaupt nichts mehr sehen konnte. Deshalb ging sie einfach weiter. Auf einmal fiel sie hin. Das Mädchen war über seine eigene Markierung gestolpert. Schnell rappelte sich Evchen auf. Da sah sie etwas Glitzerndes auf der Kreuzung. Ihr war der Diamant aus der Tasche gerollt und lag nun da. Erst jetzt merkte sie, wie ihre Knie schmerzten. Schnell holte sie ihren Schatz und setzte sich dann auf den kalten Stein. Sie zog ihr Hosenbein hoch. Eine riesige Platzwunde spiegelte sich im Leuchten ihre Diamanten wieder. Das Blut floss über Evchens Knie. Diese schrie laut auf. Auch das noch! Sie lehnte sich zurück, presste ihr Bein gegen den Bauch. Auf ihrem T-Shirt breitete sich ein riesiger Blutfleck aus. Als der Schmerz nachließ, stand sie auf, um zurück zu gehen. Jetzt wusste sie ja, wo sie her gekommen war. Ihr Edelstein leuchtete ihr den Weg. Doch dann sah sie es. Diesen Anblick würde sie nie vergessen. Es war das Schlimmste, Unappetitlichste und Angst Einflößendste, was sie je gesehen hatte. Auf dem Hinweg hatte sie es nicht bemerkt, da sie im Dunkeln gelaufen war. Am Wegrand lag eine menschliche Leiche.
Auf einmal wusste Eva, was mit all den Menschen geschehen war, die den dritten Weg betreten hatte. Der tote Körper lag unbewegt und weiß da. Seine Augen starrten ins Leere. Getrocknetes Blut sah man auf Stirn und Nase. Das Mädchen rief sich voll Entsetzen eine Regel ins Gedächtnis, die ihre Eltern ihm immer eingeschärft hatten. „Verlasse nie den Weg!“ Das also wollten sie damit verhindern. Sie sah an dem Mantel des Toten ein Schild, auf dem stand: „Bob Salberto“. Als dem Kind klar wurde, was es da sah, rannte es schreiend weiter, den Diamant zwischen den Fingern. Sie hatte solche Angst und Bobs Antlitz wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wer oder was hatte ihn umgebracht? Etwa ein Monster? Oder ein Bär? Panisch rannte sie weiter. Erst als sie an der ersten Kreuzung ankam, blieb sie keuchend stehen. Da sah sie drei Gestalten aus der Ferne kommen. Waren es die Mörder? Angstvoll verkroch sie sich hinter einem Steinhaufen. Doch als sie die drei Gestalten näher kommen sah, erkannte sie sie. Es waren Waldemar, Pietro und Will. Sie sprang auf und rannte auf die Freunde zu. Als Waldemar Eva kommen sah, rief er: „Guck nur, da ist sie!“ Die anderen sahen die Kleine nun auch kommen und rannten auf sie zu. Dann umarmten sie sich: „Oh Evchen!“, riefen die Jungs. „Oh, ihr drei!“, rief Evchen. Dann schwiegen sie.
Lin war noch immer unterwegs, als sie eine Stimme in der Ferne hörte: „Oh, ihr drei!“, rief diese. Das war Eva, keine Frage. War sie auch hier? Und hatte sie Waldemar bei sich? „Ich komme!“, rief sie. Die vier hörten Lins Stimmte und stürmten auf sie zu. Waldemar freute sich riesig, seine Schwester wieder zu sehen, aber dann überstürmten sie sich gegenseitig mit Fragen. „Was suchst du denn hier?“, fragte Waldemar Lin. Diese rief: „Dich suchen, du kleiner Trottel!“ Und Will fragte Evchen: „Warum bist du nur hier rein gegangen? Und was, wenn wir hier nie wieder raus kommen? Wegen dir haben wir uns in Gefahr gebracht.“ Evi erwiderte: „Ach Quatsch, ich habe das Rätsel der Verschwundenen gelöst!“ Da war es still. „Also“, begann Evchen. „Alle haben den Weg verlassen und sind dann irgendwie umgekommen. Wir müssen einfach nur auf dem Weg bleiben.“ „Woher weißt du das?“, fragte Pietro. „Ich habe sie gesehen“, sagte Eva leise. „Wen?“, fragte Waldemar. „Die Leiche von Bob Salberto. Sie lag neben dem Weg im Gebüsch“, hauchte Evchen.
Alle schwiegen. Da erzählte das junge Mädchen die ganze Geschichte. Als sie bei den Edelsteinen, den Diamanten ankam, flüsterte sie nur noch. „Da war er. Der Schatz aus 1000 Talern“, hauchte sie und zog den regenbogenfarbigen Stein aus ihrer Tasche. Alle staunten. Dann machten sie sich auf den Rückweg. An der Lichtung im Wald angekommen, verabschiedeten sich. Lin und Waldemar gingen schweigend nebeneinander her nach Hause. Sie wussten ja, was sie dort erwartete. Als ankamen, kamen ihnen Sam und Bisonao entgegen. „Sie sind stinksauer auf uns. Ihr solltet euch vielleicht direkt entschuldigen, damit sie nicht zu sehr schimpfen“, sagte Sam. „Was ist überhaupt passiert?“, fragte Bisonao. „Erzählen wir später“, antwortete Lin. Die Eltern schimpften nicht. Sie hatten von den Nachbarn gehört, dass Waldemar nicht zurückgekommen war, und die Brüder hatten erzählt, was Lin machte. Und von Waldemar wollten sie nur wissen, was geschehen war, denn der Sohn war sonst immer pünktlich, und von daher hatten sie sich schon gedacht, dass irgendetwas passiert war. Außerdem entschuldigten sich die Geschwister sofort, so dass ihr Wegbleiben nicht weiter schlimm war. Dann gab es Frühstück. Alle hatten riesigen Hunger, nach der ganzen Aufregung. Aber damit war es noch nicht vorbei.
Die Nachricht vom Schatz der 1000 Taler war bis zum Königsschloss vorgedrungen. Die sieben Kinder wurden noch am selben Morgen vom tapferen Prinzen Otto und der hübschen Prinzessin Elfi gerufen. Die Freunde konnte sogar, dank Evis Edelstein, mit einer königlichen Kutsche reisen. Als sie ankamen, empfing sie ein Hofdiener, der sich viele Mal vor ihnen verneigte. Dann bat er sie ins Schloss. Dort wartete das Prinzenpaar auf sie. „Seid gegrüßt, meine Freunde“, sprach Otto, und Elfi sagte: „Den Schatz, den eure kleine Freundin gefunden hat, haben wir bereits geholt. Das heißt, wir sind noch dabei. Er beträgt einen Umfang von 337 Metern mal 501 Meter und ist 30 Meter hoch. Und wir wollten euch danken. So sprecht, da der Schatz euch gehört.“ Die Freunde waren sehr großzügig. Nach einigem Beraten beschlossen sie, dass sie jeder fünf Edelsteine haben wollte. Der Rest sollte dem glücklichen Paar gehören. Jeder nahm seinen Anteil, zusätzlich brauchten sie noch einen für die Rückreise. Am Abend saß Lin bei Waldemar am Bett und las ihm die Geschichten vom zahnlosen Piraten vor. Die war sehr gruselig, aber längst nicht so spannend wie die, die sie selbst erlebt hatten. Frau Pendel, Evis Mutter, las ihrer Tochter auch etwas vor. Es war die Geschichte des kleinen Eisbären.
Am nächsten Tag trafen sie sich um noch einmal zu Bob zu gehen, denn keiner von ihnen hatte je zuvor eine echte Leiche gesehen. Sie trafen sich an der Lichtung und betraten dann ohne zu zögern den dritten Weg. Pfeifend und redend schlenderten sie den Weg entlang. Jetzt, wo es hell war, war alles nur halb so gruselig. Außerdem waren sie zu siebt, da dieses Mal auch Bisonao und Sam dabei waren.
Abends erfanden sie ein Motto: „ALLE ODER KEINER? ALLE!“